TY - JOUR T1 - Anschauung bei Kant und bei Goethe A1 - Richter, Ruth JA - Elem. d. Naturw. JF - Elemente der Naturwissenschaft PY - 2012 VL - 97 SP - 29 EP - 52 DO - 10.18756/edn.97.29 SN - p-ISSN 0422-9630 LA - de N2 -

In dieser Arbeit wird zunächst der Kontext thematisiert, in den Kant seine «Kritik der reinen Vernunft» stellte. Dem metaphysischen Dogmatismus seiner Zeit setzte er eine kritische Untersuchung des Erkenntnisvermögens entgegen. Meine Lesart ausgewählter Stellen aus der «Kritik der reinen Vernunft» ergibt, dass in Kants Erkenntnisbegriff die Möglichkeit der Gegenstandserkenntnis reduziert ist, insofern von den Objekten der Welt in der reinen Anschauung nur Verhältnisse und Relationen enthalten sind. Alle anderen Qualitäten müssen unerkannt bleiben. Im Bewusstsein, dass er mit diesem Konzept die Wirklichkeit nicht in vollem Umfang erfassen konnte, bezeichnete er ihre Objekte mit dem Begriff des «Ding an sich», im Gegensatz zu ihrer der Erkenntnis zugänglichen Erscheinung. Von einigen Autoren wurde herausgearbeitet, dass Goethe zwar Kants Begründung für die Erkenntnisgrenzen der menschlichen Vernunft anerkannt, aber die Möglichkeit gesehen hat, diese in der Naturerkenntnis systematisch zu überwinden. Auf diesem Hintergrund stelle ich anhand von Aussagen Goethes dar, dass sein methodisches Vorgehen sich über weite Strecken als Ausarbeitung und Konkretisierung einiger Angaben Kants zur Synthese der reinen Anschauung lesen lässt. Ferner, dass Goethe auch in der Hinsicht mit Kant einig ging, dass sich sein Erkenntnisanspruch nicht darauf bezog, im Wirklichen – das würde in Kants Sinn heissen: im «Ding an sich» – direkt Wesenhaftes zu schauen. Es versteht sich von selbst, dass unter diesen Aspekten Goethes Erkenntnistheorie näher bei Kant zu liegen scheint, als wenn man vor allem die Unterschiede zwischen beiden Auffassungen fokussiert. Goethes «Grenzüberschreitung» bestand in der hier dargestellten Sicht im Postulat, die urteilende Verstandestätigkeit könne in ein bewegliches Organ umgebildet werden, das partizipativ die Verwandlung der Erscheinungen im Bewusstsein mit vollzieht und so zu einem «reinen» Phänomen kommt.

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This article first of all picks out as a theme the context in which Kant placed his Critique of Pure Reason. Against the metaphysical dogmatism of his day he set a critical investigation of the faculty of cognition. My interpretation of selected passages of the Critique of Pure Reason shows that in Kant’s conception of cognition the possibility of cognizing objects is reduced to the extent that in pure intuition the objects of the world comprise only relations. All other qualities must remain unknown. Being aware that with this conception he cannot grasp reality to its full extent, Kant defines its objects with the term ‘thing in itself’, in contrast to ‘appearances’ accessible to cognition. Some authors argue that although Kant’s justification for the cognitive limits of human reason was accepted by Goethe, the latter considered it possible to systematically overcome these limits in the knowledge of nature. Against this background, with the help of Goethe’s indications regarding his methodology, I show that long stretches of them can be read as developing and rendering in concrete terms some of Kant’s comments on the synthesis of pure intuition. Furthermore, I show that Goethe also agreed with Kant insofar as what for Goethe qualified as knowledge did not involve the claim to grasp directly the essential nature of reality, which, as Kant puts it, would mean grasping in cognition the essence of the ‘thing in itself’. It is self-evident that from these aspects Goethe’s theory of knowledge seems closer to Kant’s than if we focus above all on the difference between both approaches. In the view presented here, Goethe’s ‘breakthrough’ comprises the postulate: the judging activity of reason can be transformed into a flexible organ which – in consciousness – participatively reproduces the transformation of the appearances and thus reaches a ‘pure’ phenomenon.

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In dieser Arbeit wird zunächst der Kontext thematisiert, in den Kant seine «Kritik der reinen Vernunft» stellte. Dem metaphysischen Dogmatismus seiner Zeit setzte er eine kritische Untersuchung des Erkenntnisvermögens entgegen. Meine Lesart ausgewählter Stellen aus der «Kritik der reinen Vernunft» ergibt, dass in Kants Erkenntnisbegriff die Möglichkeit der Gegenstandserkenntnis reduziert ist, insofern von den Objekten der Welt in der reinen Anschauung nur Verhältnisse und Relationen enthalten sind. Alle anderen Qualitäten müssen unerkannt bleiben. Im Bewusstsein, dass er mit diesem Konzept die Wirklichkeit nicht in vollem Umfang erfassen konnte, bezeichnete er ihre Objekte mit dem Begriff des «Ding an sich», im Gegensatz zu ihrer der Erkenntnis zugänglichen Erscheinung. Von einigen Autoren wurde herausgearbeitet, dass Goethe zwar Kants Begründung für die Erkenntnisgrenzen der menschlichen Vernunft anerkannt, aber die Möglichkeit gesehen hat, diese in der Naturerkenntnis systematisch zu überwinden. Auf diesem Hintergrund stelle ich anhand von Aussagen Goethes dar, dass sein methodisches Vorgehen sich über weite Strecken als Ausarbeitung und Konkretisierung einiger Angaben Kants zur Synthese der reinen Anschauung lesen lässt. Ferner, dass Goethe auch in der Hinsicht mit Kant einig ging, dass sich sein Erkenntnisanspruch nicht darauf bezog, im Wirklichen – das würde in Kants Sinn heissen: im «Ding an sich» – direkt Wesenhaftes zu schauen. Es versteht sich von selbst, dass unter diesen Aspekten Goethes Erkenntnistheorie näher bei Kant zu liegen scheint, als wenn man vor allem die Unterschiede zwischen beiden Auffassungen fokussiert. Goethes «Grenzüberschreitung» bestand in der hier dargestellten Sicht im Postulat, die urteilende Verstandestätigkeit könne in ein bewegliches Organ umgebildet werden, das partizipativ die Verwandlung der Erscheinungen im Bewusstsein mit vollzieht und so zu einem «reinen» Phänomen kommt.

ST - Anschauung bei Kant und bei Goethe UR - https://dx.doi.org/10.18756/edn.97.29 Y2 - 2024-04-19 09:28:55 ER -