TY - JOUR T1 - Biologische Evolution als Erscheinungsentwicklung A1 - Ziegler, Renatus A1 - Richter, Ruth A1 - Spengler Neff, Anet A1 - Wirz, Johannes JA - Elem. d. Naturw. JF - Elemente der Naturwissenschaft PY - 2015 VL - 103 SP - 41 EP - 115 DO - 10.18756/edn.103.41 SN - p-ISSN 0422-9630 LA - en N2 -

In dieser Arbeit wird die biologische Evolution aus einer Sicht beleuchtet, die Begriffen und Ideen sowohl strukturelle als auch konstitutive Funktionen für die Wirklichkeit zuspricht. Aus dieser Perspektive ist ein biologischer Organismus eine sich gesetzmässig und aktiv selbst gestaltende und erhaltende Einheit («Gesetz der inneren Natur»), die in einem robusten, d.h. flexibel-stabilen Verhältnis zu ihrer Umgebung («Gesetz der äusseren Umstände») steht. Die in einem Organismus gesetzmässig wirkenden Kräfte werden zusammenfassend als «Organismusgesetz» bezeichnet, im Sinne des von Goethe und Steiner postulierten Typus als allgemeins- tem Gesetz des organismischen Daseins.

Die auf dem Hintergrund der darwinistischen Evolutionstheorie gewonnenen Ergebnisse der Fachwissenschaften, die konkrete Evolutionsverläufe und -mechanismen beschreiben, werden hier als Tatsachen vorausgesetzt und als Entwicklung der erscheinenden Manifestationen des Organismusgesetzes angesehen.

In jedem biologischen Individuum wird durch die konkrete Geschichte seiner Ahnenreihe über die Vererbung das Erscheinungsspektrum des allgemeinen Gesetzes eingeschränkt; gleichzeitig gehen wir davon aus, dass das Organismusgesetz im Rahmen dieser Disposition in jeder einzelnen Erscheinung aktiv wirkend anwesend ist. Daraus ergibt sich eine komplementäre Evolutionstheorie, die offen ist für einen konstitutiven Beitrag aller Lebewesen zu ihrer eigenen Entwicklung.

Allgemeine Entwicklungsprinzipien werden in Teil zwei auf dem Hintergrund des Konzeptes eines allgemeinen Organismusgesetzes auf die biologische Evolution hin spezifiziert und im Blick auf die gemeinsame Abstammung und die Entwicklung von Arten, Gattungen und anderen taxonomischen Hierarchien angewendet.

Die organismische Diversität, bzw. die Erscheinungsvielfalt des Organismusgesetzes gestaltet sich im konkreten Wechselspiel von konstituierenden Bestimmungen und von modifizierenden Umgebungs- oder Erscheinungsbedingungen. Im dritten Teil wird anhand von Beispielen dargestellt, wie das Organismusgesetz im Falle der Modifikation rezeptiv mit Anpassung oder mit Variation auf sein Erscheinungsmedium reagieren kann. Gleichzeitig agiert es produktiv und gesetzmässig konstituierend nach den Prinzipien der Aneignung oder der Öffnung. Eine weitere Differenzierung des Begriffs der Anpassung oder Aneignung im Blick auf die äusseren und inneren Umgebungsbedingungen wird in Teil vier anhand von Beispielen aus der Evolutionsbiologie ins Bild gebracht. Die in jedem konkreten Organismus gleichzeitig interagierenden Prozesse, die nach diesen Prinzipien verlaufen, werden um der Übersicht willen in einer Tabelle getrennt dargestellt. Teil fünf befasst sich mit den Gestaltungsfreiräumen, die dem Organismusgesetz innerhalb der einschränkenden, aber gleichzeitig auch ermöglichenden äusseren und inneren Umweltbedingungen gegeben sind. Im Kontext dieser Untersuchungen gehört das Genom zur inneren Umwelt des sich in Einzelorganismen verwirklichenden Orga- nismusgesetzes, also zu denjenigen Bedingungen seines Erscheinens, mit denen sich dieses Gesetz auseinandersetzen muss. Indem es diese Auseinandersetzung kreativ ergreifen kann, bieten sich Innovationsmöglichkeiten, die aus dem umfassenden Potential des Organismusgesetzes neue Gesetzmässigkeiten zur Erscheinung bringen können. Stellt man – wie einige moderne EvolutionsbiologInnen – den Einzelorga- nismus als aktive Instanz ins Zentrum des Evolutiongeschehens, lassen sich auch makroevolutive Schritte erklären.

Die Frage, ob es in der biologischen Evolution Ziele gibt, erhält mit dem Konzept des Organismusgesetzes eine neue Beleuchtung. Evolution ist aus dieser Sicht das Resultat eines aktiven und wechselseitigen Zusammenspiels des in den Individuen verkörperten Organismusgesetzes und innerer sowie äusserer Umwelt, das sich durch Variation (Öffnung) und durch Anpassung zunehmend vollkommener zum Ausdruck bringt. Somit handelt es sich um eine gesetzmässig strukturierte Entwicklungsrichtung, die jedoch in ihren konkreten Zielen nicht vorherbestimmt ist.

Die Menschwerdung als Teil und Fortsetzung der biologischen Evolution wird in Teil acht angesprochen. Insofern der Mensch sich nicht in neue Arten spezifizieren kann, ist er an ein natürliches Ende seiner biologischen Entwicklung gekommen. Mit einer Kulmination an Automorphie und Autoregulation hat jede individuelle menschliche Organisation den Keim zur Verwirklichung der Autonomie entwickelt. Sie ist nicht nur Ausdruck des Organismusgesetzes, sondern auch einer nicht durch die Grenzen dieses Gesetzes behinderten Selbstbestimmung und Selbstgestaltung.

N1 -

In this paper we look at biological evolution from a viewpoint that assumes concepts and ideas are structural as well as constitutive real causes. From this perspective, a biological organism is a lawful and active automorphic unit (law of inner nature) displaying a robust – i.e. stable-flexible – relation with its environment (law of outer circumstances). We call the lawfully acting forces inside an organism ‘law of organism’, referring to Goethe’s and Steiner’s archetype as the universal law of organismic existence.

We presuppose the concrete evidence for defined evolutionary processes and mechanisms acquired by evolutionary science under the Darwinian paradigm as facts and as a development of the manifestations of the law of organism. In each biological individual the range of the law’s appearance is constrained by the history of its predecessors via heredity; at the same time within this setting we assume the law of organism to be actively present in each living being. Out of this view, a complementary evolutionary theory arises yielding the possibility of constitutive inputs of all organisms into their own development.

In part two, based on a universal law of organism we specify general principles of development with reference to biological evolution. These are applied to common descent and the origin of species, genus and other taxonomic hierarchies.

Organismic diversity, and accordingly the multiplicity of appearances of the law of organism, is shaped in factual interaction of constituting instructions and modifying environmental conditions, or conditions of appearance, respectively. As exemplified in part three, concerning modification, the law of organism has the potential to react receptively to the medium of appearance by adaptation or variation. At the same time it productively operates in a constituting manner following the principles of acquisition or opening. A further differentiation of the concept of adaptation concerning the inner and outer conditional context is presented in part four by giving examples from evolutionary biology. For the sake of epistemic distinction, the simultaneously interacting processes governed by these principles are presented separately in a table. Part five deals with the degrees of freedom given to the law of organism while being constrained yet at the same time enabled by inner and outer conditions. In the context of these investigations, the genome belongs to the inner environmental conditions that the law of organism has to deal with when it self-actualises in each individual. Innovations can be realised by creative interventions of the law of organism which allow for the manifestation of novel principles from its universal potential. To attribute to the individual organism a driving force of evolution – as also some modern evolutionary biologists do – opens new explanatory ways for macroevolution.

The concept of the law of organism sheds new light on the question of purpose in evolution. From this perspective, evolution is the result of an interactive communication between the law of organism incorporated in each individual, and inner as well as outer environmental conditions. By means of opening (variation) and adaptation, the law manifests itself towards increasing perfection. This displays a lawful but not precisely determined directiveness.

The evolution of mankind as part and as a consequence of biological evolution is addressed in part eight. In view of the fact that no further speciation is possible,the human being has arrived at the end of its biological evolution. Each single human organism has developed the seed of autonomy by a culmination of automorphy and autoregulation. It is not only a manifestation of the law of organism but also of a being not constrained by the limits of this law, with the potential of self- determination and self-embodiment.

AB -

In dieser Arbeit wird die biologische Evolution aus einer Sicht beleuchtet, die Begriffen und Ideen sowohl strukturelle als auch konstitutive Funktionen für die Wirklichkeit zuspricht. Aus dieser Perspektive ist ein biologischer Organismus eine sich gesetzmässig und aktiv selbst gestaltende und erhaltende Einheit («Gesetz der inneren Natur»), die in einem robusten, d.h. flexibel-stabilen Verhältnis zu ihrer Umgebung («Gesetz der äusseren Umstände») steht. Die in einem Organismus gesetzmässig wirkenden Kräfte werden zusammenfassend als «Organismusgesetz» bezeichnet, im Sinne des von Goethe und Steiner postulierten Typus als allgemeins- tem Gesetz des organismischen Daseins.

Die auf dem Hintergrund der darwinistischen Evolutionstheorie gewonnenen Ergebnisse der Fachwissenschaften, die konkrete Evolutionsverläufe und -mechanismen beschreiben, werden hier als Tatsachen vorausgesetzt und als Entwicklung der erscheinenden Manifestationen des Organismusgesetzes angesehen.

In jedem biologischen Individuum wird durch die konkrete Geschichte seiner Ahnenreihe über die Vererbung das Erscheinungsspektrum des allgemeinen Gesetzes eingeschränkt; gleichzeitig gehen wir davon aus, dass das Organismusgesetz im Rahmen dieser Disposition in jeder einzelnen Erscheinung aktiv wirkend anwesend ist. Daraus ergibt sich eine komplementäre Evolutionstheorie, die offen ist für einen konstitutiven Beitrag aller Lebewesen zu ihrer eigenen Entwicklung.

Allgemeine Entwicklungsprinzipien werden in Teil zwei auf dem Hintergrund des Konzeptes eines allgemeinen Organismusgesetzes auf die biologische Evolution hin spezifiziert und im Blick auf die gemeinsame Abstammung und die Entwicklung von Arten, Gattungen und anderen taxonomischen Hierarchien angewendet.

Die organismische Diversität, bzw. die Erscheinungsvielfalt des Organismusgesetzes gestaltet sich im konkreten Wechselspiel von konstituierenden Bestimmungen und von modifizierenden Umgebungs- oder Erscheinungsbedingungen. Im dritten Teil wird anhand von Beispielen dargestellt, wie das Organismusgesetz im Falle der Modifikation rezeptiv mit Anpassung oder mit Variation auf sein Erscheinungsmedium reagieren kann. Gleichzeitig agiert es produktiv und gesetzmässig konstituierend nach den Prinzipien der Aneignung oder der Öffnung. Eine weitere Differenzierung des Begriffs der Anpassung oder Aneignung im Blick auf die äusseren und inneren Umgebungsbedingungen wird in Teil vier anhand von Beispielen aus der Evolutionsbiologie ins Bild gebracht. Die in jedem konkreten Organismus gleichzeitig interagierenden Prozesse, die nach diesen Prinzipien verlaufen, werden um der Übersicht willen in einer Tabelle getrennt dargestellt. Teil fünf befasst sich mit den Gestaltungsfreiräumen, die dem Organismusgesetz innerhalb der einschränkenden, aber gleichzeitig auch ermöglichenden äusseren und inneren Umweltbedingungen gegeben sind. Im Kontext dieser Untersuchungen gehört das Genom zur inneren Umwelt des sich in Einzelorganismen verwirklichenden Orga- nismusgesetzes, also zu denjenigen Bedingungen seines Erscheinens, mit denen sich dieses Gesetz auseinandersetzen muss. Indem es diese Auseinandersetzung kreativ ergreifen kann, bieten sich Innovationsmöglichkeiten, die aus dem umfassenden Potential des Organismusgesetzes neue Gesetzmässigkeiten zur Erscheinung bringen können. Stellt man – wie einige moderne EvolutionsbiologInnen – den Einzelorga- nismus als aktive Instanz ins Zentrum des Evolutiongeschehens, lassen sich auch makroevolutive Schritte erklären.

Die Frage, ob es in der biologischen Evolution Ziele gibt, erhält mit dem Konzept des Organismusgesetzes eine neue Beleuchtung. Evolution ist aus dieser Sicht das Resultat eines aktiven und wechselseitigen Zusammenspiels des in den Individuen verkörperten Organismusgesetzes und innerer sowie äusserer Umwelt, das sich durch Variation (Öffnung) und durch Anpassung zunehmend vollkommener zum Ausdruck bringt. Somit handelt es sich um eine gesetzmässig strukturierte Entwicklungsrichtung, die jedoch in ihren konkreten Zielen nicht vorherbestimmt ist.

Die Menschwerdung als Teil und Fortsetzung der biologischen Evolution wird in Teil acht angesprochen. Insofern der Mensch sich nicht in neue Arten spezifizieren kann, ist er an ein natürliches Ende seiner biologischen Entwicklung gekommen. Mit einer Kulmination an Automorphie und Autoregulation hat jede individuelle menschliche Organisation den Keim zur Verwirklichung der Autonomie entwickelt. Sie ist nicht nur Ausdruck des Organismusgesetzes, sondern auch einer nicht durch die Grenzen dieses Gesetzes behinderten Selbstbestimmung und Selbstgestaltung.

ST - Biologische Evolution als Erscheinungsentwicklung UR - https://dx.doi.org/10.18756/edn.103.41 Y2 - 2024-03-29 09:52:43 ER -