@article{10.18756/edn.59.74, title = {{Aspekte naturwissenschaftlicher Forschung im Sinne der Freien Hochschule}}, shorttitle = {{Aspekte naturwissenschaftlicher Forschung im Sinne der Freien Hochschule}}, author = {Bockem{\"u}hl, Jochen}, journal = {Elemente der Naturwissenschaft}, year = {1993}, volume = {59}, pages = {74--80}, url = {https://dx.doi.org/10.18756/edn.59.74}, doi = {10.18756/edn.59.74}, issn = {p-ISSN 0422-9630}, language = {de}, abstract = {
[...] Wissenschaft ist ein Entwicklungsvorgang des menschlichen Bewusstseins, in dem Weltbilder entstehen, die man so lange weiter ausbaut, bis man deren Grenzen erlebt und den Ansatz f{\"u}r ein neu zu entwickelndes Bild entdeckt (siehe dazu Steiner, 1921). Die Aufgabe der Wissenschaft {\"a}ndert sich dabei nicht, sondern nur die Art der Fragen. Man bemerkt in diesem Vorgang, wie jeder echten Frage das Erlebnis zugrunde liegt, an einer Grenze anzustossen. Wo etwas als selbstverst{\"a}ndlich genommen wird oder wo nur die vorhandenen Begriffe herbeigeholt werden m{\"u}ssen, um eine betrachtete Erscheinung einzuordnen, kann in diesem Sinne nicht von einer echten weiterf{\"u}hrenden Frage gesprochen werden. Diese entsteht erst, wenn die Unzul{\"a}nglichkeit des eigenen Denkens bewusst wird und durch die Erscheinung eine innere Wende der Blickrichtung gefordert wird. Erkenntnisfortschritte kommen deshalb nur zustande durch Menschen, welche die jeweiligen Grenzen tats{\"a}chlich erleben. Das bedeutet: Forschung ist im Grunde immer individuell. Aber der individuelle Beitrag wirkt auf die Gesellschaft zur{\"u}ck. [...] In einer Zeit, in der man in Sch{\"o}pfungsvorstellungen lebte, entstand die Einschachtelungstheorie, die besagt, dass im Keim eines jeden Lebewesens - winzig ineinandergeschoben - seit dem Tag der Sch{\"o}pfung alle folgenden Generationen enthalten seien. Das erscheint uns heute unsinnig und doch war man lange Zeit damit zufrieden. Man sah z.B. auf das junge Blatt in der Knospe, wo im Ansatz der Theorie entsprechendes gefunden wird. Echte Entwicklung war noch nicht denkbar, und man erlebte nicht die Konsequenzen, zu denen solche Vorstellungsgebilde f{\"u}hren. Goethe stiess sich hingegen an solchen Grenzen der Wissenschaft seiner Zeit und bemerkte dabei, wie der {\"U}bergang von der unbelebten zur belebten Natur grunds{\"a}tzlich nicht mit dem Verstand allein, der sich nicht aus festen Vorstellungen l{\"o}sen kann, zu bew{\"a}ltigen ist. Er hat gezeigt, wie man ein anderes, beweglicheres Bewusstsein braucht, um mit der eigenen inneren Beweglichkeit dem Leben der Pflanze gerecht zu werden. [...] So {\"u}berwindet Anthroposophie die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, indem sie sich diese erst richtig bewusst macht. Denn die Wirklichkeit ist immer sinnlich und geistig zugleich. Geistige Erkenntnisse, wie Anthroposophie sie sucht, haben f{\"u}r sich keine Bedeutung, wenn sie nicht im richtigen Verh{\"a}ltnis zur Welt und damit auch zur Erscheinungswelt gehalten werden k{\"o}nnen. [...]
}, annote = {[...] Wissenschaft ist ein Entwicklungsvorgang des menschlichen Bewusstseins, in dem Weltbilder entstehen, die man so lange weiter ausbaut, bis man deren Grenzen erlebt und den Ansatz f{\"u}r ein neu zu entwickelndes Bild entdeckt (siehe dazu Steiner, 1921). Die Aufgabe der Wissenschaft {\"a}ndert sich dabei nicht, sondern nur die Art der Fragen. Man bemerkt in diesem Vorgang, wie jeder echten Frage das Erlebnis zugrunde liegt, an einer Grenze anzustossen. Wo etwas als selbstverst{\"a}ndlich genommen wird oder wo nur die vorhandenen Begriffe herbeigeholt werden m{\"u}ssen, um eine betrachtete Erscheinung einzuordnen, kann in diesem Sinne nicht von einer echten weiterf{\"u}hrenden Frage gesprochen werden. Diese entsteht erst, wenn die Unzul{\"a}nglichkeit des eigenen Denkens bewusst wird und durch die Erscheinung eine innere Wende der Blickrichtung gefordert wird. Erkenntnisfortschritte kommen deshalb nur zustande durch Menschen, welche die jeweiligen Grenzen tats{\"a}chlich erleben. Das bedeutet: Forschung ist im Grunde immer individuell. Aber der individuelle Beitrag wirkt auf die Gesellschaft zur{\"u}ck. [...] In einer Zeit, in der man in Sch{\"o}pfungsvorstellungen lebte, entstand die Einschachtelungstheorie, die besagt, dass im Keim eines jeden Lebewesens - winzig ineinandergeschoben - seit dem Tag der Sch{\"o}pfung alle folgenden Generationen enthalten seien. Das erscheint uns heute unsinnig und doch war man lange Zeit damit zufrieden. Man sah z.B. auf das junge Blatt in der Knospe, wo im Ansatz der Theorie entsprechendes gefunden wird. Echte Entwicklung war noch nicht denkbar, und man erlebte nicht die Konsequenzen, zu denen solche Vorstellungsgebilde f{\"u}hren. Goethe stiess sich hingegen an solchen Grenzen der Wissenschaft seiner Zeit und bemerkte dabei, wie der {\"U}bergang von der unbelebten zur belebten Natur grunds{\"a}tzlich nicht mit dem Verstand allein, der sich nicht aus festen Vorstellungen l{\"o}sen kann, zu bew{\"a}ltigen ist. Er hat gezeigt, wie man ein anderes, beweglicheres Bewusstsein braucht, um mit der eigenen inneren Beweglichkeit dem Leben der Pflanze gerecht zu werden. [...] So {\"u}berwindet Anthroposophie die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, indem sie sich diese erst richtig bewusst macht. Denn die Wirklichkeit ist immer sinnlich und geistig zugleich. Geistige Erkenntnisse, wie Anthroposophie sie sucht, haben f{\"u}r sich keine Bedeutung, wenn sie nicht im richtigen Verh{\"a}ltnis zur Welt und damit auch zur Erscheinungswelt gehalten werden k{\"o}nnen. [...]
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