Editorial

Elemente der Naturwissenschaft 121, 2024, P. 3-4 | DOI: 10.18756/edn.121.3

Abstract:

Liebe Leserinnen und Leser

Ich beginne mit dem dritten Beitrag, der von Karl Poppers Definition der empirischen Wissenschaft – in der Mitte des 20. Jh. – handelt, die sich bis heute in der anerkannten gesellschaftlichen Stellung der Naturwissenschaften auswirkt. «Wissenschaftliche Erkenntnis kann nur ‹objektiv› genannt werden, wenn ihre Begründungen grundsätzlich von jedermann nachgeprüft und eingesehen werden können». Mit diesem Satz hat Popper postuliert, dass Theorien, die sich auf zwar erfahrbare, aber nicht reproduzierbare Vorgänge beziehen, nicht zum Erwerb von wissenschaftlichem Wissen beitragen können. Damit wollte er die naturwissenschaftliche Methode abgrenzen von pseudowissenschaftlichen Ansätzen, die sich nur auf subjektive Überzeugungen stützen. Dies bedeutet einerseits, dass die Wissenschaft irrtumsfähig ist. Wenn eine Auffassung nicht mehr verändert werden kann, ist sie nach Popper auch nicht mehr wissenschaftlich – ein wunderbares Instrument gegen Dogmatismus jeder Art. Andererseits verbannt das Objektivitätsideal jedes kreative Denken und jedes ethische Urteil aus dem Bereich der Wissenschaft, denn beides kann nur von Subjekten geleistet werden.

In einem Essay in diesem Heft zeige ich am Beispiel von Darwins Evolutionstheorie, dass wissenschaftliches Arbeiten auf zwei Säulen ruht: erstens auf der Suche nach allgemeinen Gesetzen des Geschehens, wo das Einzelne lediglich ein Spezialfall ist, und zweitens – entgegen Poppers strengen Forderungen – auf der Charakterisierung von besonderen historischen Ereignissen, die mit in treuer Beobachtung gewonnenen prägnanten, detailgetreuen Bildern des jeweiligen Zusammenhanges dargestellt werden. Anders gesagt: Dem analytischen Vorgehen, das Einzelursachen verfolgt, ist ein zusammenhangschaffendes Denken an die Seite zu stellen, das die Bedeutung der Einzelergebnisse in der Lebenswirklichkeit erkennt und würdigt.

Die Menschheitssituation einer krankenden Erde zeigt uns, dass aus dem objektivierenden Denken neben vielen Fortschritten Sachzwänge entstanden sind, die unser aller Lebensgrundlage gefährden und die Grenzen der Rationalität überschritten haben. Es gilt, das Subjekt wissenschaftsfähig zu machen, ohne in vorkritische Irrationalität zurückzufallen. Goethes wissenschaftlicher Ansatz, der mit der Ausbildung einer «inneren Anschauung» als methodischem Werkzeug zur Erfahrung lebendiger Zusammenhänge führen kann, leitet uns in ein bisher weitgehend unbekanntes Forschungsgebiet. Mit «Explorativen
Experimenten im Denken» schlägt Willem Daub im zweiten Beitrag dieses Heftes einen Weg vor, wie mit gezielter meditativer Beobachtung des eigenen Innenlebens zwischen zahlreichen Probanden übereinstimmende Strukturen gefunden werden können, die menschliche Denkprozesse in vier Ebenen und sieben aufeinander folgende Phasen gliedern. Diese Forschung steht ganz am Anfang, zeigt aber mit einem intersubjektiv validen Resultat Möglichkeiten auf, die Begrenzung zu erschüttern, die als einzige wissenschaftliche Methode eine Aussenbeobachterposition postuliert.

Im ersten Artikel dieses Heftes wird ein anderer Weg aus dem etablierten reduktionistisch orientierten Kausaldenken aufgezeigt. In den systemischen Lebenswissenschaften begegnen uns neue, integrale und transdiziplinäre Betrachtungsweisen, die die Trennung in verschiedene Wissensgebiete aufzuheben scheinen. Thomas Hardthmuth stellt dar, wie die Mikrobiomforschung uns heute lehrt, dass im Lebendigen alles mit allem zusammenhängt. Wie sozusagen fleischgewordene elementare Kommunikationsprozesse spielen sich im Austausch zwischen den Zellen permanent Interaktionen ab. Alle Lebewesen nehmen etwas auf, verarbeiten es und geben wieder etwas ab, ein Prinzip, das sich von den menschlichen Erfahrungen über die Atmung und Ernährung bis in die Mikroprozesse der einzelnen Zellen und Bakterien hinein erstreckt.

Wir wünschen Ihnen viel Lesevergnügen mit diesen ebenso spannenden wie diversen Beiträgen.

Für die Redaktion:
Ruth Richter