Zufall und Freiheit im Kontext der Naturwissenschaften

Teil II: Exploratives Experimentieren, ideales Experiment und konditionaler Determinismus
Elemente der Naturwissenschaft 79, 2003, S. 22-50 | DOI: 10.18756/edn.79.22

Zusammenfassung:

Exploratives Experimentieren schafft vielfältige Bedingungen und beobachtet deren Folgen zur systemati schen Untersuchung von Ereignismengen hinsichtlich Bedingung-Folge-Verhältnissen. Dabei müssen be stimmende notwendige Bedingungen von begleitenden notwendigen Bedingungen sowie von begleitenden zufälligen Umständen unterschieden werden. Diese werden in konkreten Experimenten vermöge Variation und Kontrolle (Konstanthaltung, Minimierung) von Bedingungen/Umständen empirisch untersucht. Dafür stehen die von J. S. Mill entwickelten Methoden zur Verfügung: Übereinstimmungsmethode, Differenzen methode, indirekte Differenzenmethode, Residuenmethode, Variationsmethode. Sie führen zwar nicht zu endgültiger Sicherheit bezüglich eindeutiger Bestimmtheit der Komponenten von Bedingung-Folge-Ver hältnissen, geben aber eine solide Grundlage ab für sachgemäße Ideenbildungen im Hinblick auf die Entde ckung von Gesetzen der anorganischen Natur.

Das einzelne ideale naturwissenschaftliche Experiment beruht unter anderem auf ideellen Konzeptionen sowie Prinzipien zur Präparierung der bestimmenden notwendigen und hinreichenden Bedingungen. Der expliziten Herstellung dieser Bedingungen liegen Ursache-Wirkung-Beziehungen zugrunde, die damit der Annahme einer universellen Gültigkeit des konditionalen Determinismus widersprechen; jedes Experiment ist deshalb zugleich ein Beweis der individuellen Autonomie des handelnden Menschen. Die hier aufgewie senen sieben Phasen eines idealen Experimentes umfassen das differenzierte Ineinanderspiel verschiedener Ursache-Wirkung-Beziehungen mit Bedingung-Folge-Verhältnissen. Die Forderung der Wiederholbarkeit naturwissenschaftlicher Experimente erweist sich im Kern als Forderung nach individuellem und aktuellem Erkenntnisvollzug und nicht als unabdingbares Wesensmerkmal eines Experimentes.

Referenzen
  • Buchwald, J. Z. (Hg.) (1995): Scientific Practice: Theories and Stories of doing Physics. Chicago.
  • Fisher, R. A. (1926): The arrangement of field experiments. Journal of the Ministry of Agriculture, Band 33, S. 503–513.
  • Fisher, R. A. (1935): The Design of Experiments. London (New York, 12. Aufl. 1954).
  • Dingler, H. (1928): Das Experiment: Sein Wesen und seine Geschichte. München.
  • Gooding D., Pinch, T., Schaffer, S. (Hg.) (1989): The Uses of Experiment: Studies in the Natural Sciences. Cambridge.
  • Heidelberger, M., Steinle, F. (Hg.) (1998): Experimental Essays – Versuche zum Experiment. Baden-Baden.
  • Helmholtz, Herrmann von (1879): Die Tatsachen in der Wahrnehmung. Berlin (zitiert gemäß Nachdruck: Darmstadt 1959).
  • Hon, G. (1998): «If this be error»: Probing experiment with error. In: Heidelberger/Steinle: Experimental Essays – Versuche zum Experiment. Baden-Baden, S. 227–248.
  • Hume, D. (1888): A Treatise of Human Nature. Hg. von L. A. Selby-Bigge; zweite Aufl. hg. von P. H. Nidditch, Oxford 1978.
  • Janich, P. (1998): Was macht experimentelle Resultate empiriehaltig? Die methodisch-kulturalistische Theorie des Experimentes. In: Heidelberger/Steinle: Experimental Essays – Versuche zum Experiment. Baden-Baden, S. 93–112.
  • Krüger, L. (1992): Kausalität und Freiheit – Ein Beispiel für den Zusammenhang von Metaphysik und Lebenspraxis. Neue Hefte für Philosophie, Heft 32/33, S. 1–14.
  • Mill, J. S. (1868): A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, Being a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation, Bd. I. London (7. Aufl.).
  • Raumsauer, C. (1953): Grundversuche der Physik in historischer Darstellung. Erster Band: Von den Fallgesetzen bis zu den elektrischen Wellen. Berlin-Göttingen-Heidelberg.
  • Steiner, R. (1894/1918): Die Philosophie der Freiheit, Dornach, GA 4.
  • Steinle, F. (1997): Entering new fields: Exploratory uses of experimentation. Philosophy of Science, Bd. 64 (Supplement Proceedings), S65–S74.
  • Steinle, F. (1998): Exploratives vs. theoriebestimmtes Experimentieren: Ampères erste Arbeiten zum Elektromagnetismus. In: Heidelberger/Steinle: Experimental Essays – Versuche zum Experiment. Baden-Baden, S. 272–297.
  • Steinle, F. (2002): «Das nächste ans Nächste reihen»: Goethe, Newton und das Experiment. Philosophia Naturalis, Bd. 39 (1), S. 141–172.
  • Theilmann, F. (2001a): Druck und Fliessen. Erziehungskunst, Bd. 65, Heft 7/8, S. 843–850.
  • Theilmann, F. (2001b): Auf Galileis Spuren? Physik treiben an der schiefen Ebene. Lehrerrundbrief, Nr. 72, S. 25–39.
  • Ziegler, R. (2003): Zufall und Freiheit im Kontext der Naturwissenschaften, Teil I: Kausalität und Konditionalität. Elemente d. N. 78, S. 178–193.