Über die Bewußtseinsschwelle zwischen einer Chemie des Unbelebten und einer Chemie des Belebten

Elemente der Naturwissenschaft 64, 1996, S. 22-36 | DOI: 10.18756/edn.64.22

Zusammenfassung:

In den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts ereignete sich in der Medizin und Pharmakologie eine Katastrophe, wie sie bis dahin nicht in Erscheinung getreten war. Es wurden insgesamt etwa 7000 Kinder geboren, deren Ohren oder Gliedmaßen in auffällig gleichartiger Weise mißgebildet waren. Erst nach jahrelanger, aufwendiger Suche wurde die Ursache für diese Mißbildungen gefunden. Die Mütter dieser Kinder hatten im zweiten Monat ihrer Schwangerschaft ein neues Schlafmittel zu sich genommen, das unter dem Namen Contergan auf dem Markt war. Die wirksame Substanz in Contergan war das synthetisch hergestellte Thalidomid, das als Racemat, d.h. als 1:1-Gemisch der Enantiomeren (+)- und (-)-Thalidomid‚ vorlag. Langjährige Prüfungen bewiesen, daß das (-)-Enantiomer (auch als (5)-Enantiomer bezeichnet) zusätzlich zur Wirkung als Schlafmittel eine teratogene (fruchtschädigende) Wirkung aufwies, die das (+)Enantiomer nicht zeigte. Tierversuche an Ratten hatten keine Mißbildungen ergeben, ein Befund, der bereits 1966 die Herstellerfirma (!) die Frage aufwerfen ließ, inwieweit pharmakologische Versuche an Tieren auf den Menschen übertragbar seien. Hier kann nicht erörtert werden, inwieweit genauere Vorversuche an Tieren oder klinische Studien die Katastrophe hätten verhindern können. Vielmehr soll untersucht werden, wie eine verschwommene Bewußtseinslage in bezug auf Chemie und Pharmazie vorlag, die in dieser für Menschen leidvollen Art offenbar wurde und meiner Meinung nach bis heute noch bei weitem nicht klar genug erfaßt scheint. [...]

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